Montag, 18. Januar 2010

Nikodemus-Fanzine

Vor einigen Tagen fand ich das neue Quartalsmagazin der Neuköllner Nikodemusgemeinde in meinem Briefkasten -- 24-seitiger, durchgehend 4-farbiger Hochglanzprospekt  (Da sag noch einer, die hätten kein Geld) mit einem extrem kryptischen Cover in 1990er Punkästhetik:

Was will uns dieses Cover sagen? Man beachte die hineingepasteten Orden. Ein treudoof hechelnder Schäferhund mit Orden -- okay, ein gängiges Bild für das treue Militär, aber... Respekt? Trotz mehrtätigen Meditierens keine Ahnung. Ich appelliere hiermit an meine Leser -- irgendwelche Interpretationen?

Der Inhalt des Kirchenblatts ist ähnlich verwirrend. Bizarr etwa die komischen Fotocollagen, hier drei gespaltene Persönlichkeiten mit je einer Axt im Kopp:

Und hier jede Menge Fenster, Augen, Babys, Alte, Jesus, verwackeltes Autobahnfoto und explodierende Lava:

Das muss alles irgendwas mit Respekt zu tun haben, Leute.

Auf dem doppelseitigen herausnehmbaren Poster "Nikodemus in Bildern" sieht man ratlos herumstehende junge und alte Menschen, eine makabre Wildschweinkopf-Jagdtrophäe mit aufgesetztem Nikolaushut (der Herr Pfarrer haben Humor) und mehrere komisch dreinblickende, wohl oft auch angetrunkene Frauen, von denen eine sich ein Engels-Lexikon vor einer Engels-Tapete durchliest.

Aber auch die Artikel haben Pepp! Und sind auch kritisch. So wird mir erläutert, dass Jesus historisch gar nicht belegt ist; dass Gerede über Respekt und Mitmenschlickeit richtig peinlich wird, wenn es "mit christlicher Soße übergossen wird". Sidos "Kein Respekt"-Heckscheibenaufkleber ist eine gute Sache; oh weh, Managergehälter und Billiglöhne; schließlich wird gar das gesamte System offen angegriffen: "Das Ziel einer 'sozialen Marktwirtschaft' ist ein Widerspruch in sich: Früher oder später wird die soziale Orientierung des Staates auf dem Altar der globalen Marktwirtschaft geopfert. Halleluja!"

Auch erfährt man in Das Leben muss rocken! Ein Plädoyer für die Respektlosigkeit, dass Beatles und Stones früher als "Krachmacher" galten, heute jedoch "beinahe als Klassiker", und dass Atomkraft in den 1980ern "noch als fortschrittlich und sauber angesehen" wurde (klar, siehe Wackersdorf), aber "heute, nach Tschernobyl, bestenfalls als Übergang." (klar, siehe FDP).

Leider endet die Autorin dann doch wieder in christlicher Soße: 

"Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen einer kritischen Haltung und dem persönlichen Verletzen von Menschen. Wir sollten versuchen, das zu beachten. Das Beste ist, nie zu vergessen: keiner ist perfekt -- auch ich nicht."

Packend auch das Feature rund um Polizeihauptkommissar Karlheinz Gaertner. Seine schönste Zeit war "die bei einer kleinen Fahndungsgruppe der Direktion 5, Kreuzberg, gewesen", dagegen ist es ihm "noch heute unfassbar, während der Zeit der Hausbesetzungen sein Gesicht auf einem Plakat gesehen zu haben, das ihn wie einen zur Fahndung ausgeschriebenen Terroristen zeigte".

Ausgleich findet Herr Gaertner beim Schreiben, und zwar über z.B. über ärgerliche Alltäglichkeiten beim Streifengang durch den Kiez. Er muss sich ständig mit (arabischen) Kids auseinandersetzen, während er (arabische) Falschparker und (afghanische) Ampelsünder aufschreibt, er wird von (arabischen) Schülern herumgestoßen, 12- bis 13-Jährige (Araber) prahlen vor ihm mit ihrer Schwanzgröße und den Sexualpraktiken ihrer Schwestern. 16 Fahrradfahrer fahren ihn fast um -- diese aber, sensationellerweise, "jeweils ohne Migrationshintergrund".

Fazit: Extrem geiles Fanzine, welches die Grenzen von Kunst, Wissenschaft, Religion und Geschmack  transzendiert und Punk-Ästhetik mit pseudo-aufgeklärtem Dumpfbackenchristentum verbindet. Immer wieder erstaunlich, wozu einfache Menschen doch so fähig sind.

Wie man sich denken kann, ist die Nikodemus-Gemeinde so modern, dass dieses einzigartige subpropagandistische Werk für alle Welt verfügbar ist:

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