Dienstag, 12. Januar 2010

V/A: SO 36 (1979)

Eines meiner Interessengebiete ist die frühe Geschichte des Punk in Berlin. Eigentlich logisch, wenn man bedenkt, dass ich in Berlin wohne und selbst Punk liebe, aber wirklich entfacht wurde diese Leidenschaft durch Weird Systems Berlin Punk Rock-Sampler, in dessen ausgezeichneter 100-seitiger "Punk Rock Bibel Berlin" ich entdeckte, dass mein Arbeitsplätzchen genau da ist, wo 1980/81 das legendäre KZ 36 bestand, ein selbstorganisierter autonomer Laden, in dem damals alles auftrat, was in Deutschland Rang und Namen hatte.

Das erste Tondokument der Berliner Punk-Szene stammt aus dem Jahre 1978, als das SO 36 am 11. und 12. August mit dem ersten überregionalen deutschen Punk-Festival eröffnet wurde -- auch "Mauergeburtstag" genannt, aus Anlass der Errichtung der Mauer am 13. August 1961. Zugegen waren nicht nur Berliner Bands wie PVC, The Ffurs, The Wall oder die Stuka Pilots, sondern auch Mittagspause / Charley's Girls, Male und S.Y.P.H. aus Düsseldorf. Allerdings zeigte sich bereits hier, wie unterschiedlich die Auffassungen des Begriffs "Punk" damals waren: Für die Berliner war Punk schneller, dreckiger Hard Rock; für die Düsseldorfer eher experimentell-avantgardistischer Post Punk. Diese Divergenz macht für mich die Faszination des frühen Punk in Deutschland aus; jeder hatte seine eigene Meinung, was Punk sei, und für kurze Zeit führte dies zu eine der interessantesten, kreativsten und abwechslungsreichsten Phasen deutscher Kulturgeschichte.

(Selbst innerhalb Berlins gab es zwei verschiedene Punk-Szenen: Neben der hier vertretenen eher bürgerlichen "Schöneberger" Punk-Szene gab es auch die Kreuzberger Anarcho-Punk-Szene, die Punk als Aufruf zur gesellschaftlichen Veränderung interpretierte. In einem späteren Post mehr darüber, versprochen!)

Für die Freunde großer Namen: Auch Iggy Pop und David Bowie waren bei diesem Ereignis zugegen -- von ihren Äußerungen her zu schließen, haben sie allerdings nicht besonders viel mitgekriegt.

Das Schöne an dieser Platte ist, dass man hier neben sehr frühe Aufnahmen der bekannteren Bands wie PVC oder Mittagspause -- noch vor den Markthallen-Festivals -- auch die einzigen erhaltenen Dokumente so unbekannter Berliner Heroen wie The Wall oder den Stuka Pilots zu hören gibt. Die Tonqualität ist natürlich dem Anlass und der Zeit entsprechend bescheiden, aber auf eine stimmungsvolle Art und Weise.

Seite A enthält die Berliner Bands, beginnend mit den Berliner Lokalmatadoren PVC. Im März 1977 gegründet, gilt PVC als die erste Berliner Punk-Band, auch wenn sie ihre Musik schon bald als "Wall City Rock" bezeichneten, da sie sich nicht auf die Punk-Schiene festlegen lassen wollten. Hier geben sie drei Songs zum Besten, die zeigen, was für eine Power PVC damals hatten -- vor allem "No Escape" ist ein echter KBD-Punk-Hammer! Die erste offizielle PVC-Veröffentlichung kam erst 1982 auf RCA und ist durchschnittlicher Hard Rock, da hatten aber mehrere Kernmitglieder die Band bereits verlassen und spielten bei White Russia. PVC ist mit Gründungsmitglied Gerrit Meijer übrigens heute immer noch aktiv!

Als nächstes folgen zwei mehr oder weniger dilettantische Aufnahmen von den Ffurs und The Wall. Die Ffurs hatten sich erst einige Tage zuvor gegründet, weshalb auch Gerrit Meijer an der Gitarre aushilft. Während die Ffurs zumindest lange genug überdauerten, um noch auf dem "Into the Future"-Festival zu spielen, lösten sich The Wall kurz danach auch wieder auf. Über diese Band ist ansonsten kaum etwas bekannt. Marius Del Mestre singt und zupft die Klampfe (später bei Tempo, heute bei den Scherben), Matthias "Matsch" Schmid spielt Bass (später bei Blixa Bargelds erster Band, den Fame Pushers), und Uli Kukulies von den Ffurs hilft am Schlagzeug aus. Die Inzucht unter den Schöneberger Bands ist legendär.

Auch die folgende Bands, die Stuka Pilots, ist heute völlig obskur. Selbst die Namen der Mitglieder sind nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Anscheinend waren sie ebenfalls bereits 1977 gegründet und versuchten durch nazihaftes Gehabe zu provozieren. Wie auch immer, die beiden hier zu hörenden Songs gefallen mir, auch wenn sie sich sehr ähneln -- vor allem "Stuka Pilot" ist eine schöne, treibende Midtempo-Nummer mit lakonischem Gesang.

Auf der B-Seite sind die experimentelleren Düsseldorfer Bands zu hören, und die Publikumsreaktionen zeigen, dass die Berliner damit nicht viel anfangen konnten. Hinter dem Namen Dub-Liners stecken Mitglieder von Male mit Harry Rag -- die anderen S.Y.P.H.-Mitglieder hatten es wohl nicht rechtzeitig zum Konzert geschafft. Beide Songs sind kurze, improvisierte Covers.

Es folgen Mittagspause, wohl noch unter ihren Ur-Namen Charley's Girls, wenn meine Recherchen stimmen -- zumindest wurden sie als solche auf den Konzertplakaten angekündigt, und laut Chatterbox-Stammbaum erfolgte die Umbenennung erst Anfang 1979. Insofern wären dies die einzigen damals veröffentlichten Aufnahmen von Charley's Girls überhaupt, Leute! Wie auch immer, MiPau ist nicht wirklich mein Ding, aber für Punk-Archäologen ist dies sicher ein kleiner Schatz. (Heutzutage gibt's bei Bielmeiers Rondo-Blog noch viel mehr von Charley's Girls zu hören.)

Den Abschluss der Düsseldorfer Bands bilden Male mit einer frühen Version ihres Deutschpunk-Klassikers "Polizei", bevor die Berliner DIN A Testbild das Ganze mit einer hübschen 7-minütigen Dissonanz-Krach-Orgie abrundet.

Zu erwähnen ist natürlich auch die einzigartige Aufmachung dieser Platte, zumindest in der ersten Auflage 1979 (1980?): Die Platte ist verpackt zwischen zwei Stahlplatten, die aus dem SO 36 selbst stammen -- ob aus der Tanzfläche oder der Wand, ich erinnere mich nicht mehr. Von dieser Auflage wurden nur 50 (100?) Stück gefertigt, ich schätze mal, ein beliebtes Sammlerstück. Später erschien noch eine zweite Auflage mit konventionellerem Packaging und größerer Stückzahl.

Ich habe mir übrigens die punklerische Freiheit genommen, die Aufnahmen per Compander ein wenig aufzupeppen. Der Sound ist so ein wenig fetter geworden, mir gefällt's so besser, Puristen werden's hassen -- die können die unbearbeiteten Aufnahmen auf dem lustigen Down Underground-Blog runterladen. Außerdem habe ich nach bestem Wissen und Gewissen Band-Namen und Songtitel korrigiert -- die Angaben auf den meisten Webseiten sind falsch:

  • PVC: Wall City Rock
  • PVC: No Escape
  • PVC: Without You
  • The Ffurs: Wild Boys
  • The Wall: 1945
  • Stuka Pilots: Stuka Pilot
  • Stuka Pilots: L.O.L.A.
  • Dub-Liner: What Do I Get
  • Dub-Liner: Draht (I am the Fly)
  • Charley's Girls: Bendorf lügt
  • Charley's Girls: Marmor, Stein und Eisen bricht
  • Charley's Girls: Industrie total
  • Charley's Girls: 1978 Deutschland
  • Male: Polizei
  • DIN A Testbild: Roboter 

Heute ist das SO 36 ist übrigens vom Aussterben bedroht, da der Mietvertrag zum 31. März 2010 gekündigt wurde, aus den üblichen Gründen: Anwohner und Lärmbelästigung. Vielleicht hätten sich die bescheuerten Anwohner mal ein wenig erkundigen sollen, bevor sie sich direkt über einen Punk-Club einmieten. Aber so ist das mit den neu Hinzugezogenen: Man will ja unbedingt in einem hippen Bezirk wohnen, aber das, was den Bezirk wirklich hip macht, das will man nicht. Im Grunde will man's genau so wie in seinem schwäbischen Dörfle, nur dass man sagen kann, ich wohne in Kreuzberg. Gentrifizierung halt, zum Kotzen. Andererseits hat das SO 36 in seiner Geschichte schon oft schließen müssen und ist dann doch wieder auferstanden. Es wird auf jeden Fall noch eine Weile weiter gestritten werden -- mal sehen, wie's ausgeht.

This is the live comp from the opening of the legendary Berlin punk club SO 36, also called "Mauergeburtstag" (= wall birthday) as it was also the 17th  birthday of the Berlin Wall. Recorded on two nights on August 11 and 12, 1978, this is the earliest recordings of German punk -- the opening also was the first inter-regional German punk festival, featuring bands from Berlin and Düsseldorf. Some of the Berlin bands like The Wall and Stuka Pilots are completely obscure, and these are their only recordings; of the other bands, for example Charley's Girls, these are, to my knowledge, the first existing recordings (except archival stuff released much, much later). There are a few great songs to be found here, my favorite being PVC's No Escape, a must for any KBD fan, showing the energy and power of the early PVC.

3 Kommentare:

  1. Hallo! Ist schon witzig, plötzlich etwas über ein Ereignis zu lesen, bei dem man dabei war.
    Du hast den peinlichen Auftritt von 110 vergessen, der vielleicht ja auch vergessenswert war. Ich war im Schlepptau mit ihnen vom Niederrhein gekommen. Zum ersten Mal Berlin geschnuppert. Bin ein Jahr später hingezogen.
    Nach der langen Fahrt und dem späten Auftritt von 110, wo der eine Gitarist schon so besoffen war, dass er dauernd sein Wawa aufjaulen ließ, was wir überhaupt nur peinlich fanden, sind meine Freundin und ich völlig abgeklappt und haben uns verzogen. Am nächsten Morgen hätte ich heulen können, waren doch die oben erwähnten Berühmtheiten Iggy Pop und David Bowie kurz nach unserem Verschwinden dort aufgetaucht.
    Egal, war ein witziges Wochenende!
    Wer bist Du eigentlich?

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  2. Sehr schönes Dokument (deutscher) West/Berliner Musikgeschichte, ich war dabei und kann das alles genau so bestätigen.

    Allerbeste Grüße
    Mark Eins (DIN A TESTBILD)

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  3. Schade dass der Download-Link nicht mehr funktioniert, könntest du den evtl noch mal neu hochladen?

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